Einsparungspotential beim Brückenbau


oder eine Brücke ohne Geländer ist schneller fertig


In der Software-Entwicklung und im Brückenbau existieren ungeahnte Einsparungspotentiale!


Gespräch zwischen Auftraggeber und Projekleiter

Auftraggeber: Wird die Brücke termingerecht zum 31.10.2004 fertiggestellt?

Projektleiter: Mit der vollen Funktionalität können wir den Termin nicht einhalten, aber das Leitungsteam hat noch einige Einsparungsmöglichkeiten entdeckt. Dadurch könnten wir den Termin halten und sogar noch Kosten einsparen!

Auftraggeber: So, welche denn?

Projektleiter: Zur Zeit haben wir ca. 1 Monat Zeitverzug. Aber wenn wir statt Windabweisern, Leitplanken und Geländern nur eine weiße Linie aufmalen und Hinweisschilder aufstellen, können wir den Termin noch einhalten. Außerdem können wir günstig einen Restposten der Schilder in Deutschland einkaufen, dort werden sie nicht mehr verwendet!

Auftraggeber: Ist das nicht gefährlich?

Projektleiter: Nicht, wenn wir die Fahrer entsprechend schulen und nur Fahrzeuge mit verbesserter Sicherheitsausstattung auf die Brücke lassen. Die Schulungen und die Verbesserungen können wir parallel zum Bau durchführen und sparen so Zeit ein!

Auftraggeber: Ach so! Aber sollten wir nicht sicherheitshalber beim Ingenieur nachfragen, ob das realisierbar ist?

Projektleiter: Der Ingenieur ist sehr beschäftigt mit dem Bau der Brücke, es würde weitere Verzögerungen erzeugen, wenn wir ihn mit Kleinigkeiten von der Arbeit abhalten! Das wird schon funktionieren!

Auftraggeber: Und wenn doch einmal jemand abstürzt?

Projektleiter: Ach, das ist nicht so gravierend, so hoch ist die Brücke nicht, ich habe mal einen Plan gesehen!

Auftraggeber: Dann wird die Brücke also termingerecht fertiggestellt?

Projektleiter: Wenn Sie die Änderungen genehmigen, dann ja!

Auftraggeber: Also gut, wenn Sie sicher sind, dass das unproblematisch ist, dann lassen wir halt das Geländer und den anderen Kram weg!

Projektleiter: Abgemacht!


Gespräch zwischen Projekleiter und Ingenieur

Projektleiter: Das Terminproblem ist gelöst!

Ingenieur: Ach ja?

Projektleiter: Ja, der Auftraggeber verzichtet auf die Geländer, die Windabweiser und die Leitplanken. Dadurch sparen wir einen Monat ein!

Ingenieur: Haben Sie ihn über die Konsequenzen aufgeklärt, wenn die Sicherheit derartig reduziert wird?

Projektleiter: Ja, wir haben uns darauf geeinigt, nur eine weiße Linie aufzumalen, Hinweisschilder aufzustellen und die Fahrer entsprechend zu schulen.

Ingenieur: Und wenn trotzdem einer abstürzt?

Projektleiter: Die werden schon aufpassen, sind ja schließlich geschult!

Ingenieur: Das Risiko tragen Sie! Das will ich schriftlich!

Projektleiter: Wenn es sein muss... Sagen Sie mal, das wiegt doch ganz schön, die Windabweiser und die Leitplanken?

Ingenieur: Ja, ist nicht zu vernachlässigen!

Projektleiter: Da könnte man ja die Brücke etwas schwächer auslegen und einiges an Materialkosten einsparen! Und die Pfeiler könnten auch etwas dünner ausfallen!

Ingenieur: Im Prinzip ja, aber dann kann man später keine Windabweiser und Leitplanken mehr installieren, wenn man alle vier Fahrspuren benutzen will! Möglicherweise entscheidet sich der Auftraggeber ja noch um...

Projektleiter: Dann wird die Brücke in diesem Fall eben einspurig, das setze ich in die Vertragsklauseln! Führen Sie die Kostenreduktion also durch!

Projektleiter geht.

Ingenieur (zu sich): Ich glaube nicht, dass das dem Auftraggeber gefällt, aber das ist ja nicht mein Ressort ...


Die Brücke

Zufällig hat der Projektleiter nach Fertigstellung der Brücke doch noch eine Übersichtszeichnung gefunden:


Zum Vergrößern bitte anklicken

Na ja, aber durch die Vertragsklauseln ist ja alles rechtlich abgesichert...


Das Ende

Trotz intensiver Schulungen fielen beim ersten Sturm 50 Fahrzeuge von der Brücke. Die Fahrer haben überlebt, weil die Fahrzeuge mit Fallschirmen ausgestattet waren.

Der Betreiber X der Brücke musste auch keinen Schadenersatz leisten, das war im Kleingedruckten der Maut-Tickets ausgeschlossen worden.

Aber keiner wollte mehr über die Brücke fahren, daher entschloss sich der Betreiber X zur Nachrüstung.

Daraufhin wurden Leitschutzplanken, Geländer und Windabweiser zu horrenden Kosten nachgerüstet und, zum Erstaunen des Betreibers X, die Fahrspuren von vier auf eine reduziert. Eine für beide Richtungen.

Dadurch entstanden lange Staus und die Brücke wurde weitgehend gemieden.

Der Betreiber X ging in Insolvenz und verklagte die Baufirma Y, jedoch ohne Erfolg, da im Kleingedruckten ja auf die Reduzierung hingewiesen worden war.

Die Baufirma Y aber ging ebenfalls in Insolvenz, weil kaum ein Auftraggeber mehr Vertrauen in die fachliche Kompetenz der Firma hatte.

Schließlich fand sich ein anderer Investor A, der mit einer anderen Baufirma B neben der Brücke eine weitere bauen ließ, die aber trotz Terminproblemen nach allen Regeln des ingenieurmäßigen Brückenbaus erstellt wurde: mit Leitschutzplanken, Geländern und Windabweisern. Diese Brücke wurde ein voller Erfolg, sowohl für die Baufirma B als auch für den Investor A.

Der Staat übernahm die exorbitant hohen Kosten für den Abriss der ersten Brücke, als diese nach kurzer Zeit einzustürzen drohte. Durch die kurzfristige Planänderung war die Statik der Brücke aus Zeitmangel nicht erneut durchgerechnet sondern nur geschätzt worden. Die in der Schätzung getroffenen Annahmen stellten sich leider als falsch heraus. Außerdem war der Abriss der Brücke nicht eingeplant worden, damit sehr aufwendig und sehr teuer.


Fazit

Was im Brückenbau nicht funktioniert, ist in der Software-Entwicklung (und nicht nur da ...) leider alltägliches Geschäft!

Warum eigentlich?

Kein Brückenbauingenieur würde ein Brücke dieser Dimension ohne Geländer, Leitplanken und Windabweiser bauen.

Niemals!

Und in der Software-Entwicklung?

Ist Ihnen noch nie ein Programm abgestürzt?


Referenzen


Ralf Peine, Februar 2011